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Über die Ausstellung »Calder-Picasso« Flügelschlag des Schmetterlings

Im Jahr 1925 schreibt der US-amerikanische Schriftsteller E. E. Cummings in dem Beitrag »The Adult, the Artist and the Circus« in der Vanity Fair: »Let us not forget that every authentic ›work of art‹ is in and of itself alive and that, however ›the arts‹ may differ among themselves, their common function is the expression of that supreme alive-ness which is known as ›beauty‹«. (Wir sollten bedenken, dass jedes authentische Kunstwerk in sich und aus sich heraus lebendig ist, und dass, mögen sich die Künste auch voneinander unterscheiden, ihre Aufgabe darin liegt, jene tiefe Lebendigkeit auszudrücken, die wir Schönheit nennen.)

Zwei Künstler, Alexander Calder und Pablo Picasso, deren Werke in je besonderer Weise diese »schöne Lebendigkeit« verkörpern, sind derzeit in einer Ausstellung im Pariser Musée Picasso zu sehen, die ab September 2019 bis Februar 2020 in das Museo Picasso Málaga weiterwandern wird. Die aktuelle Ausstellung umfasst in Paris 120 Werke, in Málaga werden 110 davon zu sehen sein. Sie wirft die Frage nach der Erforschung der Leere (»capturing the void«) auf, wobei das englische »void« hier all das bezeichnet,was sich der Form entzieht (und ebenso für die Betrachtung von Musik oder Literatur interpretationsleitend sein kann) – eine Frage, der sich die beiden Künstler auf sehr unterschiedliche Weise nähern. Raum kann sich auf vielfältige Weise darstellen, etwa durch Subtraktion von Masse in Calders Skulpturen, oder durch die Darstellung von Zeitverzerrungen, wie in Picassos Porträts.

Doch es ist eine weitere, weniger deutlich gestellte Frage, die diese Ausstellung so sehens- und nachdenkenswert macht: die nach der Darstellung von Subjektivität, sowohl im Hinblick auf den Standpunkt des Künstlers im Werk als auch nach seiner Repräsentation, die der Betrachter in der Reflexion auf die eigene Betrachtung übertragen kann. Insbesondere das Werk des verglichen mit Picasso weniger bekannten Calder stellt sie auf höchst eigensinnige Weise dar, weswegen im Folgenden der Fokus auf seinen Arbeiten liegen soll. 1898 geboren in Pennsylvania als Sohn einer Malerin und eines Bildhauers, wuchs Alexander Calder mit Kunst auf, er hatte bereits als kleines Kind Modell gestanden für eine Skulptur, die sein Vater anfertigte. Calder begann 1913 ein polytechnisches Studium am Stevens Institute für Technology. 1918 trat er in die US-Army ein, 1919 schloss er das Studium mit einem Diplom in Maschinenbau ab. Von 1922 an verlagerte er mit Kursenin Zeichnen und Porträtmalerei seine Aufmerksamkeit zusehends in Richtung Kunst. Er begann zunächst, realistisch zu malen, 1926, nachdem er nach Paris gegangen war, schließlich mit dem, was sein Werk so charakteristisch macht, mit »kinetischer Kunst«. Er bastelte aus Draht, Stoff, Leder, Gummi, Kork und anderen Materialien den »Cirque Calder«, ein Arrangement von maßstabsverkleinerten, beweglichen Figuren, die einem echten Zirkus nachempfunden waren. Mit diesem mobilen Zirkus trat Calder in Paris zunächst in seinem Atelier auf, später auch in den Vereinigten Staaten. Man kann Ausschnitte von Vorführungen im Netz finden: Da sitzt ein erwachsener Mann auf dem Fußboden und bewegt die Figuren wie ein spielendes Kind, lässt Löwen durch Reifen springen, Artisten an Trapezen schwingen, selbstvergessen, aber anders als ein Puppenspieler keineswegs auf ein Illusionskontinuum bedacht, seltsamerweise zugleich an- und abwesend wirkend.

Diese »Zirkusvorführungen«, die den Raum in besonderer Weise organisieren, verschafften Calder Aufmerksamkeit auch für sein weiteres Schaffen, zunächst für seine aus Draht gebogenen Figuren, darunter etwa zwei von Josephine Baker, die auch in der Pariser Ausstellung zu sehen sind und deren eine mit einer Art spiraligem Büstenhalter aussieht, als habe sich noch Jean-Paul Gaultier im Design des panzerartigen Korsetts für die Popsängern Madonna an sie erinnert. Aufmerksamkeit war Calder dann auch gewiss für die Mobiles, als deren Erfinder er gelten darf.

Bewegliche, motorbetriebene Arbeiten

Paris, Frühjahr 1931. Calder, der sich nach einem ersten Aufenthalt 1926 und einer Station in den USA erneut in Paris niedergelassen hat, stellt in der Galerie Percier seine Arbeiten aus. Unter den ersten Besuchern dieser Ausstellung ist auch Picasso, der im Rahmen einer Vorbesichtigung die Werke Calders betrachtet. Die beiden werden einander vorgestellt. Zu dieser Zeit ist Calder, der nach Paris gezogen war, um sich, wie Jed Pearl in der glänzenden Biografie Calder. The Conquest of time (2016) schreibt, besser selbst zu fassen und dort zu sein, wo sich so wichtige Protagonisten der Moderne wie Fernand Léger und Marcel Duchamp, Ernest Hemingway, Joan Miró, Man Ray versammelt hatten. Während Léger im Vorwort zum Katalog der Ausstellung 1931 Calder in eine Reihe mit Erik Satie, Piet Modrian, Marcel Duchamp und Constantin Brancusi stellt, die er als »unchallenged masters of unexpressed beauty« (»unumstrittene Meister unausgesprochener Schönheit«) bezeichnete, war es Duchamp, der im Anschluss an die Ausstellung bei einem Besuch in Calders Pariser Studio für eine bewegliche, motorbetriebene Arbeit aus drei Teilen den Begriff »Mobile« prägte, einen Begriff, der im Französischen das Bewegliche und Angetriebene gleichermaßen meint. In einer weiteren Pariser Ausstellung »Calder: ses mobiles«, die im Februar 1932 in Paris stattfand, wurden diese luftigen Gebilde, die Calder geschaffen hatte, dann zum ersten Mal dem Publikum gezeigt.

Aus der Begegnung zwischen Calder und Picasso wurde keine allzu enge Freundschaft. Doch blieben beide, zeitweise korrespondierend, einander zugetan, trafen sich noch etliche Male. Calder hatte Arbeiten von Picasso in seinem Atelier, und von Picasso weiß man, dass in den 50er Jahren zumindest ein Mobile, wenn auch keines von Calder, in seinem Studio in Vallauris hing. Sowohl Calder als auch Picasso gelten der Abstraktion verpflichtet. Bei Picasso, dessen frühe Bilder bis zur Rosa bzw. Blauen Periode noch einer realistischen Malweise folgen, lässt sich die Hinwendung zur Abstraktion gut beobachten, in der Ausstellung geradezu exemplarisch und wie im Zeitraffer an der Bildfolge »Le Taureau« (»Der Stier«), entstanden zwischen Dezember 1945 und Januar 1946, deren elf Einzeldarstellungen das Tier immer weiter auf seine prototypische Form hin reduzieren, bis im letzten Bild der Abfolge das »Stierhafte« durch einige, wenige Linien gefasst ist.

Die eingangs gestellten Fragen nach der Organisation von Raum, vor allem aber die nach der Rolle des Künstlers im Kontext seines Werkes werden aber bereits im ersten Raum der Ausstellung sofort konkreter fassbar: Ein Mobile aus dem Jahr 1937 hängt von der Decke. An einem schwarzem Draht, an dem das Gebilde im Lot angebracht ist, ist zur einen Seite hin ein Ausleger befestigt, der in der Waagrechten in einen schwarzen Kreis aus Draht ausläuft, am zweiten, gegenüberliegenden Ausleger des Mobiles ist im senkrechten Lot eine Stange befestigt, die wiederum zwei weitere Ausleger unter sich hält, an denen wiederum jeweils eine waagrechte Stange befestigt ist, von deren einen Enden zwei Kugeln in Rot und Gelb mit unterschiedlichem Durchmesser, von deren anderen Enden jeweils zwei sich mittig und jeweils um 180 Grad gegeneinander verdreht sich schneidende Kreisscheiben in Rot und Weiß hängen. Es ist eines der weniger komplexen, abstrakten, luftigen Gebilde, von denen Calder im Laufe seines Lebens so viele in sehr unterschiedlichen Größen, Farben, mit organisch geformten Körpern geschaffen hat, und zu denen stets noch etwas gehört, das sich auf Fotos kaum oder gar nicht abbilden lässt: der jeweilige Schatten an der Wand oder auf dem Boden, der bei glatter Projektionsfläche als gleichsam »rückwärts abstrahiertes« Mobile, dem Farbigkeit und Dreidimensionalität entzogen sind, zum Objekt gehört. Betrachtet man das Mobile längere Zeit, wird man Zeuge einer Poesie der Selbstvergessenheit: Selbst wenn es viele Ausleger und eine große Spannweite hat, bleibt es aufgrund seiner Abstraktion diskret, belebt und verwandelt in seinen Bewegungen dennoch den gesamten Raum. Ein Windhauch oder das Vorübergehen eines Ausstellungsbesuchers ändern die Position der Körper, die Bewegungen wirken nicht selten unwillkürlich. Sie lassen Assoziationen in verschiedene Richtungen zu, etwa auch die an den Schmetterlingseffekt, jenes Phänomen der nichtlinearen Dynamik, bei dem niemals vorhersehbar ist, wie sich die kleinsten Änderungen langfristig auf ein System auswirken.

Systeme in Balance

Am erstaunlichsten ist aber, was nicht sofort evident wird: Das Ego des Künstlers als Schöpfergeist, die Bezugnahme des Mobiles auf ein Subjekt, sind aus dem Mobile getilgt. Wo der »Cirque Calder« noch seinen Erfinder präsent hält, kommen beim Betrachten des Mobiles Fragen wie: »Wer hat dieses Werk in welchem Zustand, in welcher geistig-seelischen Verfassung erdacht und was will er, was will es, das Gebilde, uns sagen?« gar nicht auf. Jean-Paul Sartre, der über Calders Mobiles in einem Essay nachgedacht hat, bemerkte 1946, dass ihre Faszination eben daher rühre, dass sie nichts anderes bedeuteten als sich selbst: »Sie sind es, das ist alles; sie sind das Absolute«. Vergegenwärtigt man sich Sartres Bemerkung bei der Betrachtung des Mobiles im ersten Raum der Ausstellung und setzt sie ins Verhältnis zu den dort ebenfalls gezeigten auf ein Subjekt bezogenen Skulpturen Pablo Picassos »Projet de Monument à Apollinaire« (»Entwürfe für ein Denkmal für Apollinaire«, 1928), tritt eine zentrale Erkenntnis, die sich aus der Ausstellung gewinnen lässt, rasch offen zutage, und die der französische Kunsthistoriker und ‑kritiker Donatien Grau im Katalog formuliert: »Wo Picasso in der Tradition des Humanismus steht, begründet Calder eine Tradition, in der nicht mehr der Mensch in der Schlüsselposition steht.« Die Konstellationen der Mobiles, so Grau, ähnelten Galaxien, seien auch Blättern, Zweigen, vergleichbar: »Jedes von ihnen ein Baum ohne Stamm, existierend ohne in der Erde verwurzelt zu sein.«

Denkt man von Graus Beobachtungen im Katalog aus noch einen Schritt weiter, lassen sich Calders luftige Monumente, die Abschied nehmen von einem Denken, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht, auch paradigmatisch für eine neue und integrativere Sicht auf die Welt lesen. Das Austarieren komplexer Kräfte, die Dynamik, die den calderschen Mobiles innewohnt, führt zu drängenden Fragen in einer globalen Welt, in der Gegenwart: Wie hält man Systeme in der Balance? In welchem Verhältnis stehen Kräfte zueinander? Welche Einflüsse haben welche Wirkung? In welches Verhältnis setzen wir unser Ich zu dem, was Calder in seinen Mobiles darstellt?

So erscheint Calders Kunst in mancher Hinsicht utopischer und moderner als die Picassos, dieses Giganten der Moderne. Sartre stellte fest, dass Calders Mobiles, die nichts imitieren zugleich lyrische Interventionen und mathematische, regelrecht technische Kombinationen seien. Er sah in ihnen Symbole einer mächtigen und unbestimmten Natur als Aneinanderreihung von Ursache und Wirkung und einer zögerlichen Fortentwicklung, die immer verzögert, immer gestört wird.

Calders Kunst ist eine, die Denken und Wahrnehmen so unaufdringlich wie radikal infrage stellt und anders ausbalancieren kann, ganz so, wie Körper in einem Mobile austariert werden müssen, damit dieses ins Gleichgewicht kommt, im Gleichgewicht bleibt, eine Kunst, die in der Bewegung existiert. Kein Abbild kann die reale Erfahrung dieser lebendigen Schönheit im Sinne Cummings' ersetzen, sie ist subjektlos-auratisch, utopisch-gegenwärtig, unerschöpflich. Und um abschließend noch einmal Cummings' Überlegungen zum Zirkus, der auch für Calders Werk so zentral ist, zu zitieren: »Movement is the very stuff out of which this dream is made.« (»Bewegung ist genau der Stoff, aus dem dieser Traum gemacht ist.«)

Die Ausstellung »Calder-Picasso« ist vom 24. September 2019 bis zum 2. Februar 2020 im Museo Picasso in Málaga zu sehen. Sie ist eine Zusammenarbeit der Calder Foundation, New York und der Fundación Almine y Bernard Ruiz-Picasso. Der Ausstellungskatalog kostet 42 €.

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